Rede von Bürgermeister Erik Lierenfeld anlässlich der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht

Meine Damen und Herren,    

es sind verstörende Bilder, die seit vier Wochen von Israel und dem Gaza-Streifen aus um die Welt gehen: Ein Land, das von der Terrormiliz der Hamas beschossen und terrorisiert wird. Ein Land, dass sich verteidigt und den Terror beenden will. Doch um das zu erreichen, finden nun auch verheerende Kämpfe in Gaza statt. Ein Krieg ist natürlich immer verheerend, aber in dem Fall ist das besonders Grausame, dass die Hamas die Zivilbevölkerung wieder einmal als Schutzschild benutzt. Und es gibt zwischen diesen Dingen erhebliche Unterschiede – auch wenn einige Personen versuchen, das nun anders darzustellen. Die Hamas hat Zivilisten verletzt, verschleppt und teilweise hingerichtet. Menschen, denen der Konflikt zwischen Israel und Palästina vielleicht geschmerzt hat und die sich womöglich für eine Koexistenz ausgesprochen haben. Unter den Opfern dieses Angriffs vor vier Wochen waren auch Menschen aus unserer Partnerstadt Kiryat Ono – unfassbar – unbegreiflich. Mit diesem Anschlag der Hamas haben diese einen Bärendienst für die Menschen in Palästina geleistet. Damit ist eine mögliche Aussöhnung in unglaubliche Ferne gerückt.

Meine Damen und Herren, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es ist nicht so, dass man sagen kann, der eine macht alles richtig und der andere alles falsch. Aber wir wissen, wer einen Angriffskrieg auslöst, muss mit Gegenwehr und Verteidigung rechnen. Klar ist auch: Die Hamas ist in diesem Kontext der Ausgangspunkt allen Übels. Ihre Gesinnung ist nicht tolerierbar und menschenunwürdig. Und dennoch: Krieg ist nie eine Lösung! Mir blutet das Herz für jeden Menschen – und vor allem für jedes Kind – was diesem Konflikt jetzt zum Opfer fällt. Und wäre das nicht schon schlimm genug, erschüttert es mich zutiefst, wie der Antisemitismus auch in Deutschland – ja auch hier in Dormagen – erneut aufflammt.

Und das, bei unserer Geschichte! 85 Jahre nach der Reichspogromnacht, die sinnbildlich für die Zerstörung des jüdischen Lebens in Deutschland steht, sind die Juden erneut nicht nur zur Zielscheibe einer terroristischen Gesinnung geworden – sondern werden auch hier ausgegrenzt, bespuckt und geschlagen. Weil sie einer anderen Religion angehören. Wer so handelt, hat in Dormagen – hat in Deutschland – nichts zu suchen! Denn wer hier lebt, hat sich in unsere Gemeinschaft einzugliedern und unsere Gesetze zu achten. Das heißt: Wer in Deutschland lebt, hat unsere Demokratie, Religionsfreiheit und Menschenwürde zu achten – egal, ob Moslem, Jude, Christ, Buddist oder Atheist. Hier ist kein Platz für Fanatismus, kein Platz für Menschen, die anderen Menschen Schaden zufügen wollen. Das werden wir in den nächsten Wochen und Monaten nochmal sehr deutlich machen.

Ich begrüße daher die neue Initiative des Landes NRW unter dem Motto „Niewiederistjetzt!“.

Denn wir müssen jetzt aufstehen und uns gemeinsam für das demokratische Leben ins unserer Stadt – in unserem Land stark machen.

Anders als am 9. November 1938, als die plündernden Horden der SA nicht nur staatlich geduldet, sondern gestützt wurden, stellen sich die Bundesrepublik und natürlich auch wir hier in Dormagen den gewaltbereiten Demonstrantinnen und Demonstranten entschieden entgegen und sagen „Stopp!“. Denn es wird nicht reichen, Hundertschaften auf die Straßen zu schicken und Sicherheitspersonal vor den Synagogen aufzustellen. Wir sind selbst in der Verantwortung, ja in der Pflicht, Antisemitismus und Hass klar auszugrenzen. Beleidigungen und Verwünschungen, die sich gegen eine Religion und gegen ein Volk richten, verurteile ich aufs Schärfste. Und das gilt natürlich nicht nur bei den Juden, sondern bei allen religiösen Anhängerinnen und Anhängern. Das erwarte ich aber auch von allen Menschen, die hier leben wollen.

Wir stehen heute gemeinsam auf dem jüdischen Friedhof, um unsere Verbundenheit und unsere Entschlossenheit zu demonstrieren. Dabei sind wir auch in Gedanken bei unseren Freunden in Kiryat Ono. Noch vor einem Jahr hat mein Amtskollege Israel Gal an dieser Stelle gestanden und wunderbare Worte der Freundschaft und des Vertrauens gefunden. Heute ist Israel Gal in unserer Partnerstadt –
mitten in einem verwundeten und angegriffenen Land.
Ich möchte an dieser Stelle meiner tief empfundenen Hoffnung Ausdruck verleihen, dass unsere Freunde die kommenden Wochen und Monate unbeschadet überstehen.      

Zudem wollen wir heute der Opfer der Reichspogromnacht – wie der Familie Franken aus Zons – gedenken, deren Grab unweit von hier entfernt ist. In mehreren Generationen betrieb die Familie in Zons eine Metzgerei.

Auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kauften einige Zonserinnen und Zonser trotz des reichsweiten Boykotts jüdischer Geschäfte gerne in der Metzgerei der Frankens ein. Als drei Jahre später Berta, die die Metzgerei von ihrem verstorbenen Mann übernommen hatte, stirbt, geleitete ihre Tochter Johanna die Tote auf ihrem letzten Weg zum jüdischen Friedhof, auf dem wir uns heute befinden. Erst war die Familie alleine, dann öffneten sich einzelne Haustüren. Frauen schlossen sich dem Trauerzug an und zeigten schweigend ihr Mitgefühl mit der alteingesessenen, beliebten Metzgerfamilie. Später wurden die Teilnehmerinnen verhört, mindestens eine von ihnen musste eine Geldstrafe bezahlen.

In der Reichspogromnacht wurde Johannas Wohnung von SA-Männern verwüstet. Ihre Brüder flohen aus Deutschland. Johanna nicht. „Ich bleibe hier bei meiner Mutter", soll sie gesagt haben. 1941 wurde sie ins Ghetto Riga deportiert und im Jahr darauf in einem Gaswagen ermordet.

Neben der Familie Franken wurden viele weitere jüdische Bürgerinnen und Bürger während der Pogrome schikaniert, verhaftet und ermordet. Eigentlich unvorstellbar – und doch läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich manche Bilder der heutigen Zeit im Fernsehen sehe. Ist das wirklich undenkbar?

Meine Damen und Herren, es ist schrecklich heute hier zu stehen und die vergangenen Wochen Revue passieren zu lassen. Noch vor einem Jahr hätte ich es mir nicht vorstellen können, dass hier in Dormagen Menschen leben, die Hetze gegen andere betreiben, die eine israelische Fahne stehlen. Diese Menschen gehören nicht in unsere Gemeinschaft! Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass wir uns hier in Dormagen bei Veranstaltungen wie diesen Gedanken über verstärkte Sicherheit machen müssen. Für mich ist es in einer aufgeklärten Gesellschaft selbstverständlich, dass wir – egal welchen Glaubens – in Frieden zusammenleben.     

Wie es in Israel weitergeht, können wir nicht beeinflussen. Aber hier vor Ort können wir durch unser Wirken sicherstellen, dass der Hass und der Antisemitismus keine Chance haben. Dies ist eine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen: Im Büro, in der Schule, auf der Straße, im Geschäft. Wir stehen an der Seite unserer jüdischen Freunde. Wir stehen für Frieden und Dialog. Der Hass hat keinen Platz in unserer Mitte.

Umso schöner ist es zu sehen, wenn Bürgerinnen und Bürger sich für andere einsetzen. So kümmert sich bspw. die Otmar-Alt-Gruppe vom Raphaelshaus um die „Stolpersteine“ in unserer Stadt. Die Jugendlichen säubern und polieren die Gedenksteine, um die Namen und ihre Geschichten dahinter lebendig zu halten. Dies ist ein wunderbares Zeichen der Wertschätzung!

Ein weiterer großer Dank geht an den Partnerschaftsverein Dormagen-Kiryat Ono und das Team des städtischen Kulturbüros um Olaf Moll, die seit vielen Jahren gemeinsam diese Gedenkfeier ausrichten.

Auch möchte ich mich herzlich bei den Schülerinnen und Schülern sowie deren Lehrkräften der Bertha-von-Suttner-Gesamtschule, der Hackenbroicher Realschule, des Bettina-von-Arnim-Gymnasiums und des Leibniz-Gymnasiums bedanken, die unsere heutige Gedenkfeier mit tollen Beiträgen aktiv mitgestalten. Es ist wirklich vorbildlich, wie Ihr Euch einsetzt und dadurch einen wichtigen Beitrag zur Solidarität mit Israel leistet. 
Und ein großer Dank geht an Sie alle, die hier stehen und somit ihre Solidarität bekunden. Es ist schön zu sehen, dass die Gemeinschaft funktioniert und dass wir uns zusammen einsetzen. Doch es müssten eigentlich noch viel mehr Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme erheben. Es sind unsere Grundrechte, die hier verletzt werden.

Ich betone es noch einmal ganz deutlich: Krieg ist nie eine Lösung! Hass ist keine Lösung. Das Ziel muss weiterhin eine friedliche Koexistenz der Religionen sein!     

Dafür bete ich.